Protokoll einer Naturkastrophe
Inspiriert vom Vortrag von Rainer Schreg und der neuerlichen Erwähnung das Magdalenenhochwasser hab ich den folgenden Text geschrieben. Alle verwendeten Namen existierten tatsächlich in Trebur und Umgebung im 14. Jahrhundert, Vogt und Schultheiß haben sogar ihre tatsächliche Namen erhalten. Zudem habe ich versucht die Zeitabläufe in etwa einzuhalten. Ich hoffe ich habe mich bei den Wochentagen in der Umrechnung von Gregorianischen auf Julianischen Kalender nicht vertan, sonst würde aus Donnerstag Mittwoch usw. Auch die Uhrzeiten (Sonnenauf- und Untergang ) habe ich berücksichtigt. Ansonsten ist natürlich sehr viel Phantasie dabei, wobei ich versucht habe so neutral wie möglich zu schreiben.
Donnerstag 19. Juli 17:38 Uhr Bauer Henne geht über seine Felder. Seine Hand streift immer wieder durch das Korn. Viele Hülsen sind hohl, das Getreide zu niedrig. Das schlechte Wetter im Frühjahr und die Trockenheit des Sommers haben das Getreide schlecht wachsen lassen. Seine Schritte wirbeln den Staub des trockenen Bodens auf.
Da bemerkt er die Schwalben. Sie fliegen extrem niedrig, huschen über das Getreide. Er weiß nicht das die Insekten wegen eines anrückenden Tiefdruckgebietes so niedrig fliegen und die Schwalben ihnen auf der Futtersuche folgen, was er aber weiß ist das es Regen verheißen könnte.
„Bloß kein Unwetter“ denkt Henne. Ein Unwetter dürfte die ohnehin schon schlechte Ernte weiter dezimieren. Er sieht nach Süd-Wüsten. Die Richtung aus der in der Regel das Wetter in das Rheintal kommt. Nichts.
Donnerstag 19. Juli 18:07 Uhr Bauer Henne erreicht das Dorf. Er wohnt noch in dem alten Teil des Ortes,der nur durch einen natürlichen Wassergraben geschützt ist. Er konnte es sich nicht leisten in den Teil des Dorfes zu ziehen der durch einen Wall geschützt ist. Am Steg trifft er auf Pedir und Heylen, ebenfalls Bauern. Sie unterhalten sich angeregt. Henne fragt was los sei. Beide deuten in die Richtung aus der Henne kam. Nach Süd-Osten. Über dem Odenwald hängen dunkle, Turmhohe Wolken. Wetterleuchten ist erkennbar. „Eben waren die noch nicht da“ denkt sich Henne. Ein Sturm zieht herauf.
Donnerstag 19. Juli 18:21 Uhr Es ist windstill, die graue Wand rückt immer näher. Der Odenwald ist komplett hinter ihr verschwunden.Die Wand hängt in der Nähe der Kratzenau. Henne rafft mit seiner Frau alles lose vor seinem Haus zusammen. Die Kinder werden nach drinnen gebracht. Keine Sekunde zu spät. Erste dicke Tropfen fallen auf den Boden, wirbeln den Staub auf. Aus dem Nichts die ersten starken Böhen. Die Graue Wand schiebt Staub vor sich her, erreicht das Ort. Dann bricht die Hölle los. Sturm und Regen peitschen gegen das Haus. Die im Westen stehende Abendsonne tauchte alles in ein gespenstisches Orange. Hennes Frau hat die kostbare Bienenwachskerze auf den Tisch gestellt und entzündet. Sie beginnt zu beten. Zum hl. Ägidius wegen des Sturms, zur hl. Anna ihrer Namenspatronin und zu allen Heiligen die ihr einfallen um ihre Ernte zu schonen. Henne steht noch eine Weile an der Tür, dann betet auch er.
Freitag 20. Juli 03:25 Uhr Anna ist am Tisch eingeschlafen. Henne findet keinen Schlaf. Immer wieder schaut er nach draußen. Zwar hat sich der Sturm gelegt aber es regnet unaufhörlich. Da hört Henne etwas. Es sind die Glocken der Kirche im Oberdorf. Dann die Glocken der Kapelle und dann auch der Kirche in seinem Dorfteil. An der Tür klopft es laut. Henne streift sich die speckige Gugel über den Kopf und läuft nach draußen. Dort rennt ein Mann aufgeregt an den Häusern vorbei pocht immer wieder gegen die Tier und schreit“ Das Vieh auf der Ochsenweide säuft ab“.
Damit hatte Henne nicht gerechnet. Hochwasser im Sommer. Zum Glück war man auf Hochwasser in der Region immer vorbereitet und kannte sich aus.
Henne und die anderen Männer des Dorfes lauffen über die verschlammten Wege durch das Oberdorf hinaus auf die Weide. Tatsächlich steht die niedrigere Ochsenweide unter Wasser. Sie zieht sich wie ein Fluss dahin und reicht den panischen, laut schreinden Rindern bis über den Bauch. Um die Tiere aus dem Gatter zu treiben ist keine Zeit. Die Männer springen ins Wasser und reißen die Zäune ein. Mit Seilen um die Hörner versuchen sie das Vieh die schlammige Kante hinauf zu schieben. Nur schwer gelingt es. Plötzlich reist das Seil, die Kuh rutscht über den Schlamm nach unten und reist einen Knecht des Schultheißen mit sich.
Als man ihn aus dem Wasser und unter der Kuh befreit hat atmet er schwer. Blutiger Schaum steht ihm im Mund.
Freitag 20. Juli 07:42 Uhr Die Männer haben 4 Kälber und 2 Kühe verloren. Der Knecht mit dem eingedrückten Brustkorb ist tot. Noch immer regnet es. Der Morgen ist grau und dunkel. Man treibt die Kühe auf den Marktplatz im Ort. Auch Pferde sind hier bereits hingebracht worden und auch der Schäfer treibt eine Herde Schafe auf den Platz. Keine guten Zeichen. Enten und Gänse flattern aufgeregt umher. Es macht den Eindruck eines chaotischen Markttages.
Freitag 20. Juli 09:05 Uhr Die Tiere sind versorgt und festgebunden. Henne geht über die Brücke in Richtung seines Hauses. Der Bach den er überquert ist stark angeschwollen, der nahe Weiher bereits über die Ufer getreten. Schlimmer jedoch, auch auf den Feldern steht bereits Wasser in riesigen Pfützen. Er eilt zu seinem Haus, befiehlt Frau und Kinder das Nötigste zu packen, die Bahnen mit dem Leinen und der Wolle, die Essensvorräte und sich bereit zu machen ins höhere Oberdorf zu gehen.
Freitag 20. Juli 11:16 Uhr Alle Wiesen beginnen voll zu laufen, der Bach tritt über die Ufer. Die Familien verlassen das Unterdorf und begeben sich auf die andere Seite des Baches der langsam zu einem breiten Strom anschwillt.
Freitag 20. Juli 15:29 Uhr Der Priester liest in der Kirche Messen am Stück, man betet das die Flut enden möge. Das Dorf bildet inzwischen eine Insel in einem riesigen See. Zahlreiche Einwohner fehlen, sie sind auf die Wiesen gegangen um noch Vieh zu holen oder Verwandte zu suchen. Im Unterdorf steht das Wasser Knöchelhoch. Noch immer regnet es und das Wasser steigt weiter.
Freitag 20. Juli 20:15 Uhr Sonnenuntergang. Das Wasser steigt noch immer. Es steht bereits am Brückentor und läuft in den niedrigeren Ortsteil am Bach. Man bereitet sich für die Nacht vor. Sammelt alles Feuerholz um auf dem Markt ein Feuer zu entfachen. Lampen und Fackeln werden durch die Knechte des Schultheißen gesammelt um genug Licht zu haben um das Wasser zu beobachten.
Freitag 20. Juli 22:34 Uhr Das Wasser schiebt sich durch die Straßen und erreicht den Markt. Panik macht sich breit. Von Gottes Strafe, einer neuen Sintflut ist die Rede. Das gesamte Dorf packt seine Sachen. Letzter und höchster Punkt des Ortes ist die Kirche die einst den religösen Mittelpunkt des Königshofes bildete. Für alle Tiere und Menschen gleichzeitig ist dort oben nicht genügend Platz. Es kommt zum Streit. Der Schultheiß Fridericus besteht darauf die Pferde seines Landersherrn zu Retten, die Niederadeligen und der Klosterhof will sein Vieh sicher wissen, genauso wie Vogt Gerunk Wynterkast. Die kleinen Bauern haben das Nachsehen. Getreide und Futter wird in Säcken in die Kirche geschafft Vieh vor der Kirche angebunden. In der Kirche drängt sich das Volk.
Freitag 20. Juli 23:15 Uhr Der Markt ist vollgelaufen. Das Vieh auf dem Markt schreit um sein Leben in der undurchdringlichen Dunkelheit des Regens.Auch die Tiere auf dem Kirchhügel ist panisch. Kinder weinen in der Kirche. Der Priester verteilt die Sterbesakramente.
Samstag 21. Juli 2:45 Uhr Das Wasser hat das Plateau des Kirchofs erreicht. Man schafft das Getreide auf die Emporen. Wieder gibt es Streit wer dort hinauf darf. Ein Kriegsknecht des Vogtes schlägt einem einem Bauern der ihm an den Kragen will im Namen Gottes den Schädel ein. Man schafft die Leiche vor die Tür. Die Schafe auf dem Markt sind verstummt. Ertrunken. Auch die Kühe hört man nur noch vereinzelt panisch schreien. Über dem Unterdorf, das ebenfalls vollkommen bedeckt sein muss sieht man ein Licht schweben. Der Engel des Todes.
Samstag 21. Juli 5:48 Uhr Sonnenaufgang. Das Wasser steht Kniehoch in der Kirche ist aber seit einer halben Stunde nicht mehr angestiegen. Hoffnung ist jedoch nicht zu spüren. Das fahle Licht zeigt nur noch eine Wasserfläche rund um die Kirche. Nur 3 Adelstürme und einige Dächer schauen aus der Wasserfläche heraus. Vom Unterdorf ist nur der Kirchturm durch den langsam abschwächenden Regen zu sehen. Aus dem Turmfenster weht eine kleine Kirchenfahne. Irgendjemand muss sich dort hinauf gerettet haben. Das muss auch das Licht gewesen sein das man für den Engel des Todes hielt.
Samstag 21. Juli 8:00 Uhr Der Priester liest eine Messe. Beten und Warten ist das einzige das man tuen kann. „Die Arche, die Arche“ gellt von draußen ein Ruf. Doch es ist keine Arche die dort draußen vorbei schwimmt. Es ist eine Schiffsmühle die sich losgerissen hat, gefolgt von unmengen an Holz. Der Zimmermann erkennt das es sich um Teile einer Brücke handeln muss. Dem Gänsehirten ist das egal. Er sieht es als Zeichen Gottes, springt ins Wasser und will zur vermeintlichen Arche schwimmen. Man wird ihn nie wieder sehen, ganz im Gegensatz zur Schiffsmühle, die man später zertrümmert zwischen einigen Eichen finden wird. Auch die Knechte die den aufgedunsenen Leichnam einige Tage später an der Baustelle der kurfürstlichen Burg in Eltville aus dem Rhein ziehen werden nie erfahren um wen es sich handelt.
Samstag 21. Juli 10:53 Uhr Der Regen hat das erste Mal wieder aufgehört. Das Wasser hat sich um keinen Zoll verändert. Der Tod zeigt sein Gesicht. Wasserleichen treiben vorbei. Totes Vieh. Ganze Häuser. Es ist still. kein Vogel ist zu hören, kein Tier.
Samstag 21. Juli 18:00 Uhr
Das Wasser ist ein wenig zurückgegangen. Der Kirchhof ist wieder frei, aber eine einzige Schlammfläche. Die Leute sind erschöpft. Man hat kaum gegessen, auch Weim oder Bier ist knapp. Vereinzelt wird das schlammige Wasser getrunken um den Kindern die sauberen Getränke zu erhalten. Alle sind nass, durchweicht, frieren, das Feuerholz geht aus.
Sonntag 22. Juli 09:08 Uhr Fest der hl. Maria Magdalena. Das Wasser ist weiter zurückgegangen. Das Oberdorf mit dem Markt ist wieder begehbar. Es ist bedeckt von Schlamm, Ästen, Baumstämmen, Fässern und Tierkadavern. Riesige Schwärme von Krähen sind in der Luft. Die Gefache der Häuser sind ausgespühlt, nur noch leere Gerippe stehen. Es stinkt erbärmlich. Erste Leichen werden gefunden und notdürftig beigesetzt.
Sonntag 22. Juli 17:32 Uhr Auch das Unterdorf ist nun mehr oder weniger begehbar, die Brücke dorthin jedoch ist zusammengebrochen. Aus einigen Baumstämmen wird eine Behelfsbrücke gezimmert. Die Häuser auf der anderen Seite sind völlig zerstört. Nicht einmal den Platz wo sein Haus stand findet Henne noch. Alles ist mit Schlamm bedeckt.
Im Kirchturm hat sich ein Fischer gerettet der eigentlich am Fluss lebt. Er floh in der Hoffnung hier sicher zu sein. Er hat seine ganze Familie verloren.
Die Äcker sind vollständig verwüstet, das Getreide zerstört. Noch immer stehen Seen außerhalb des Ortes. Es wird etwa 4 Wochen dauern bis auch sie verschwunden sind.
Erst in einigen Tagen wird den Einwohnern klar werden wie schlimm die Verwüstung wirklich ist. In den Häusern werden Leichen gefunden, sogar in den Bäumen hängen Tote mit verdrehten Gliedmaßen. Der Rhein hat neue Arme gebildet. Die Flut hat neue Wasserlöcher ausgespült. Das alte Unterdorf auf der anderen Seite wird fast vollständig aufgegeben, nur die Kirche wird noch genutzt. Die Versuche in Mainz und Frankfurt Getreide für den Winter oder für die Aussaat zu kaufen schlagen fehl. Das Chaos ist dort noch größer. Alles ist verwüstet. Wege sind zerstört. Um zu überleben wird man die Eicheln sammeln und zu Eichelmehl verarbeiten, Kräuter, Nüsse, Beeren aber Rinde und Gras müssen helfen über den Winter zu kommen. Tiere die überlebt haben werden notgeschlachtet, man hat kein Futter um sie über den Winter zu bringen. Viele Fische sind in den dreckigen Fluten verendet. Die Region wird von einer Stechmückenplage heimgesucht, die das Fieber bringt. Wölfe streunen durch das Land. Ratten vermehren sich rasend.
Henne, seine Frau Anna und ihre drei Kinder haben die Flut überlebt. Ihr Haus jedoch ist zerstört. Eine verlassene Ruine im Oberdorf wird von ihnen bezogen und notdürftig geflickt. Im Herbst stirbt Hennes Frau an der Cholera. Seine Tochter, das mittlerste Kind, verhungert im Winter obwohl Henne wildert. Er ist froh das es nur sein Tochter ist. 6 Jahre später stirbt Henne und sein ältester Sohn an der Pest. Nur sein Jüngster überlebt.
Ein Riesenkompliment an dich! Dass ist eine unheimlich realitätsnahe Geschichte – ganz, ganz toll! Und das jetzt noch mit einem weiteren ergänzenden Handlungsbogen als Comicgeschichte!
Als alter Flussbewohner und 2xmaliger Flutkämpfer von der „Hallig Gimritz“ werde ich es nachher mal kritisch lesen. Und Urteil via Mail senden.
Dein Isí
Ich als alter Rheinanwohner (die Deiche hielten bisher immer) hab selbst einiges an Kritik an meinem Text. Zu vereinfachtes Flutmodel, wahrscheinlich 2 Flutspitzen, zu schneller Ablauf etc. Bin daher sehr gespannt und werde wohl noch mal dazu schreiben.
Richtig, der Ablauf ist bei der Höhe viel zu rasch, wir haben Mi. höchste Höhe, bis zum Passieren der Wege bis Di. gebraucht, also fast eine Woche. Zwei Flutspitzen haben wir 2011 gehabt. Aber der Verlauf ist heute anders als damals, keine Rückhaltebecken, kaum Deiche, aber viel, viel mehr Überschwemmungsfläche. Was sagt der Rheinländer ?
Das ist nicht einfach. Das Ganze hängt davon ab welcher Fluss bzw. Welche Welle zuerst das nördliche Rheintal oder Mainz erreichte. Bei mir war es so das ich nur den Main berücksichte. Dr hatte am 19. Seinen Höhepunkt in Frankfurt. Bis hinter Kelsterbach ist er durch die Kelsterbacher Terasse gefangen, drückt danach aber in die Altarme die bis Trebur reichen. Die Ochsenweide, eigentlich Ochsenlaache, gehört dazu weshalb sie zuerst vollläuft. Das gesamte nördliche Rheintal wird somit zum Retentionsgebiet.
Ich schreib das aber noch mal richtig auf. Am Handy brech ich mir sonst die Finger. Übrigens ich bin Rheinhesse. Die Rheinländer sind das mit dem komischen Bier. 😉
Klar, mach das. Auf jeden Fall ist Dein Beitrag sehr gelungen und gibt einen guten Eindruck. Was heute aufgrund vieler Vorräte und Technik zu meistern ist, war noch vor wenigen Jahrzehnten tödlich.
Viele trockene Grüße nach Rheinhessen, Isí