Bin ich (k)ein Reenactor?
Aus Gründen wird dies der erste Artikel, der hier im Blog auch separat auf englisch erscheinen wird!
Vor geraumer Zeit hatte ich eine Mailverkehr in dem ich als Reenactor angesprochen wurde und ab einem gewissen Punkt widersprach ich, da ich mich selbst nicht als solchen sehe. Zudem entstanden weitere Diskussionen rund um das Thema und irgendwann keim eine Aussage das ich zu den besten Reenactoren für die karolingische Zeit gehören würde. Zudem stehen einige weitere Situationen an, in denen ich “nicht” Reenactment machen werde… Oder kurz gesagt: Aus meiner Sicht bin ich kein Reenactor!
Und tatsächlich habe ich nie wirklich irgendein echtes Reenactment gemacht.
Naja, nicht ganz. Ich habe in 10 Jahren nur drei mal in der Öffentlichkeit den “Erklärbär in karolingischer Kleidung” gegeben. Einmal für Terraplana 2012 im Rahmen der Veranstaltung “Der Kreis rollt“, ein zweites Mal 2016 am Museumsuferfest in Frankfurt für das Archäologische Museum Frankfurt und dieses Jahr in Tübingen mit Hiwisca für das MUT. Die Trebur Führungen in Klamotte zähle ich mal nicht mit. Das war nur Ambiente für die Besucher.
Aber ich habe fast alles Zuhause für Reenactment. Und das für eine Zeitstellung von Karolinger bis Salier! Auch Rüstungsteile und Bewaffnung. Es ist also nicht so, dass ich mir nicht auf einer Veranstaltung auf die Zwölf geben könnte. Es war nur so, dass ich nie das Bedürfnis dazu gehabt hätte oder meine Zeit dazu gereicht hätte. Zudem habe ich die Sachen nie explizit für eine Darstellung angeschafft.
Aber erst ein kurzer Blick in die Vergangenheit. Geweckt wurde das Interesse an Geschichte durch meinen Vater, der mit uns bei Ausflügen sämtliche Rheinburgen abklapperte. Zu dem kam kam der Moment als ich so drei oder vier war und wir im Käfer an Trebur vorbeituckerten und er mir sagt , dass dort auch mal so was wie eine Burg stand. Ich glaube er versuchte mir auch den Begriff Pfalz zu erklären.
Mit dieser Grundlage ausgerüstet versuchte ich immer mal etwas über die Pfalz Tribur zu erfahren, fand aber nichts.
In der Schulzeit, ich hatte, glaube ich, gerade Herr der Ringe gelesen, hörte ich das erste mal von LARP. Aber in den frühen 90ern, noch ohne Führerschein und ohne Geld und vor allem ohne Internet, sowas zu finden, war für mich unmöglich. Zumal das damals eher so ablief das Zauberer und paladin aufeinander trafen, das Charakterblatt rausholten und zu würfeln begannen, danach kam die Wattebällchen Phase…
Ich begann dann irgendwas mit Baumwoll-Grobmittelalter für den Mittelaltermarkt..
Um 2005 herum erfuhr ich von einer riesigen Truppe “Beknackter”, die unter dem Namen Franco Flämisches Kontingent firmierten. Was für eine krasse Idee, dachte ich. Mit so einem Trupp nach Hastings, das wärs.
Ich war stiller Mitleser im Forum, so wie auch bei Tempus Vivit. Legte mir eine einfache Klamotte zu (handgenäht), lies sie mir damals noch von Jörg Fraske in Freienfels absegnen, besorgte mir einen Bogen und… …hatte am Ende kein Kohle, verfolgte das nicht weiter und blieb daheim. Also die Chance auf Reenactment vergeben.
Die Besuche in der Normandie und in Hastings holte ich dann privat im Urlaub nach.
Aber warum hab ich den Kram, warum baue ich einen Schild, lasse mir Teile für ein Wehrgehänge fertigen und nähe ständig irgendwelches Zeug?
Mein primäres Ziel ist es, zunächst einmal Interesse für die Pfalz Tribur zu wecken und darüber zu informieren, in der Hoffnung, dass irgendwann mal was richtiges passiert. Dabei hatte ich den Vorteil das ich von Historikern und Kunstgeschichtlern Crashkurse erhalten habe, zum Teil sogar in Archivierungstechniken. Das brachte mich natürlich Zwangsläufig zum Umgang mit Archivalien.
Ich recherchiere und durchforste die Geschichte nach Informationen. Vieles ist, wenn man sich nicht für die Feinheiten interessiert, extrem trocken. ( Ich find’s trotzdem spannend) Prinzipiell könnte man sagen, ich interessiere mich für das komplette Leben in und um eine Pfalz oder Königshof. Das dumme daran ist, dass dies den kompletten Aspekt des gesamten Lebens, von Unfrei, Halbfrei,Frei bis (Hoch)Adel , von einfacher bis herrschaftlicher Architektur, von Ackerbau und Fischfang bis Militärwesen beinhaltet. Wobei mich eins natürlich mehr interessiert als das Andere.
Ich bin ein sehr visueller und haptischer Mensch. Ich bilde mir ein Dinge besser verstehen oder nachzuvollziehen zu können, wenn ich sie nur “begreifen” kann. Nun kann ich mir eine Oculus aufsetzen und mir meine 3D Modelle ansehen, was mir selbst schon ein gutes Gefühl für Architektur und Größen gibt.
Vergleichbar ist es etwa wenn ich eine Tunika nähe, ausprobiere wie man ein Schild hergestellt haben könnte und es auch nutzt oder ähnliches.
Kleider machen Leute sagt man, tatsächlich bewege und verhalte ich mich anders wenn ich ein Sakko trage. Genauso bei unterschiedlichen Tuniken und Mänteln. Ich mache dies also, um ein Gefühl für etwas zu bekommen. Das ich alles mit der Hand nähe, ist aber, um ehrlich zu sein, dem Problem geschuldet, dass ich mit Nähmaschinen auf Kriegsfuß stehe. Dann eben mit der Hand.
So hab ich mir ja einen Klappenrock mit langflor Wollfutter ( aka Flokati ) genäht und hab mir vorgenommen, wenn es schneit, in den Vogelsberg zu fahren und damit durch den Schnee auf dem Hoherodskopf zu stapfen um ein Gefühl für Kleidung, Temperatur usw. zu bekommen.
Da ich bei sowas immer etwas im Hinterkopf haben muss warum denn jemand im Jahr 825 durch den Vogelsberger Schnee stapfen könnte, kam mir in den Sinn das jemand zur Weihnacht nach Fulda gepilgert sein könnte. Daraus entstand wiederum die Frage was so jemand mit sich rumschleppt und warum er zu Fuß unterwegs ist. Zu Fuß= Buße und Adventszeit ist Bußzeit. Gepäck recht wenig. Ein paar Decken für den Notfall, eine Axt für Holz im Notfall und ein bisschen Essen und das was man sonst so dabei hat um Feuer zu machen , Messer und sowas. Nicht viel. Und im freien Schlafen wäre dann auch nur Notfall, denn das Servitium, die Gastungspflicht für den König, gibts auch für Pilger und ohnehin hatte Gastfreundschaft einen anderen Stellenwert. Gleichzeitig verstehe ich aber auch, warum man sich nicht unbedingt beim Köhler oder dem einsamen Waldmüller einquartieren sollte. Die können einen relativ unbemerkt verschwinden lassen. Im nächsten Dorf sieht die Sache anders aus. Im Zweifelsfall schließt man sich einer Famila, einer Zweckgemeinschaft als Reisegruppe an.
So ist dann die Klamotte Mittel zum Zweck, um mir Gedanken zu machen.
Hinzu kommt eine weitere Sache. Einfach nur Theorie zu büffeln kann gut sein, muss es aber auch nicht sein. Ich erinnere an den 2013 verstorbenen Wilfried Menghin, der in “Das Schwert des (sehr) frühen Mittelalters” einen Vorschlag zum Wehrgehänge der Merowingerzeit lieferte. Das Ganze basierte auf logischer Überlegung, aber funktionierte nur bedingt. Es zwickt hier und rutscht dort. Menghin hatte es nie in die Realität umgesetzt oder getestet. Menghin die Schuld dafür zu geben, wäre aber falsch. Er stammte aus einer Zeit, in der Archäologie und Geschichtswissenschaften oftmals noch in einem elitären Elfenbeinturm saßen. Also kein vergleich etwa mit einem Zbigniew Robak, der seine Theorien zu einem möglichen Schwertgurt in die Tat umsetzt.
Aber wenn das, was ich mache, kein Reenactment ist, was dann? Ist das experimentelle Archäologie? In Teilen der Definition nach ja. Ich würde es aber nicht so hochtrabend sehen. Es hilft im Grunde nur mir selbst ein Gefühl für eine Zeit zu bekommen. Zudem sehe ich mich in einem Zugzwang. Ich kann nicht wie Menghin eine Theorie aufstellen und mich dann auf meine Reputation berufen. Ich muss liefern, bzw. das Ganze mit einem Modell oder einer Replik untermauern. Auf diese Weise sammelt sich dann einiges an Zeug an, das den Reenactment Eindruck erweckt.
Aber das ist nicht mal schlecht. Im Frühjahr war ich beim Märzfeld des ehemaligen Franco Flämischen Contingent eingeladen worden und erschien dort auch in, zugegeben etwas zeitlich zu früher, Kleidung. (Tja, komische Situation. Erst wollte man mitmachen, hat nicht geklappt und dann wird man dorthin eingeladen…) Dort konnte ich z.B. erstmals etwas nachvollziehen, was mir aus Textquellen bekannt ist.
Notker der Stammler berichtet von der Armee Karls des Großen, ganz in Metall gekleidet und blinkend in der Sonne. Als ich auf der Funkenburg aufkreuzte, war es gegen 10 Uhr. Es war fantastisches Wetter, die Sonne hatte ich im Rücken und vor mir stand die voll gerüstete Truppe zum Training. Obwohl die Kettenhemden zum Teil brüniert waren und an einigen Stellen Rost aufwiesen, blitzen, blinken und funkeln sie in der Sonne, ganz zu schweigen von den Helmen. Gedanklich hatte ich so ein Szenario bereits vor Augen gehabt, nur habe ich es nie gesehen. Man braucht keinen Plattenpanzer und keine Schuppenpanzer, um diese Optik zu erzeugen. Dies war eine Erkenntnis, die ich nur durch Reenactment gewinnen konnte.
Eigentlich agiere ich mehr wie ein Historiker mit viel zu ausgedehnten Bereichen.
Nur mit dem Begriff Historiker habe ich auch ein kleines Problem. Zwar handelt es sich dabei in Deutschland nicht um eine geschützte Berufsbezeichnung, aber ich persönlich finde es unfair, mich mit Leuten auf eine Stufe zu stellen, die Beispielsweise Mediävistik studiert haben.
Dazu kommt dann auch die Sache mit dem Imposter-Syndrom – Selbstzweifeln an den eigenen Fähigkeiten.
Ich sitze in meiner Bude, schreibe irgendwas und denke, das es liest keiner. Dann fährt man irgendwo hin und entdeckt Sachen, die man selbst irgendwann mal postuliert hat und erfährt dann aus dem Gespräch, dass man sich hier im Blog bedient hat und hinterher denke ich, dass ich vielleicht scheiße geschrieben hab oder hätte tiefer in die Materie gehen können und bekomm Zweifel an dem was ich mache.
Wahrscheinlich bin ich aber dann doch irgendwie ein Reenactor und will es nicht wahrhaben. Wahrscheinlich weil ich immer dachte und denke ich kann das Level der Personen von 2006 nicht erreichen.
Ein Grund dafür sehe ich der Verfügbarkeit vob Gegenständen im Allgemeinen. Als ich mich erstmals mit Seidenverzierungen an Tuniken auseinander setzte, konnte man Seidenrepliken noch nicht kaufen. Ich hatte damals die Idee mir ähnliche Textilien aus einem Londoner oder Athener Shop für Christlich Orthodoxe Sakrale Textilien zu bestellen. Das wäre einem kleinen Vermögen gleichgekommen. Vor zwanzig Jahren sah die Welt in dieser Hinsicht vollkommen anders aus.
Und wenn ich meinen Kram sehe, denke ich jedesmal , das ist doch Mist, das hättest du hier anders und dort besser machen können. Und dann kommen dann doch die Einladungen mal hier , mal dorthin zu kommen.
Daher bin ich kein Reenactor, sondern jemand der Reenactment als Mittel zum Zweck nutzt, sozusagen ein Trittbrettfahrer…
Hat mir sehr gefallen und ich habe mich immer auf den nächsten Teil gefreut. Der Text schuf wirklich eine intensive…
Hi, ist schon länger her aber ich hab mich auch mal kurz damit beschäftigt. http://www.ffc1066.de/wp-content/uploads/2009/09/KG_Lager_V1.pdf Grüße der Uhl
Danke habs korrigiert. War wahrscheinlich der holozänische Revolutionskalender von Göbekli Tepe oder so ;-)
Leider doch nur ein Typo … Canossa war ja 11076 … Ich finde den Holozänkalender jedenfalls einer Überlegung wert. Grüße…
Ab heute mit Jahresangaben nach Holozän-Kalender? Ich finde das gut; überlege ebenfalls, den öfter zu verwenden. (Es wird das Jahr…