Die karolingische Tunika III – Mehr als ein Schnitt
Bevor ich mich weiter in Beschreibungen und Erörterungen von Kleidungsverzierungen ergehe möchte ich heute zunächst einmal auf den Schnitt der karolingischen Tunika eingehen. Und das hat auch so seine Gründe.
Als ich mich erstmalig mit Reenactment befasste, so um 2000 herum, war der Tenor einhellig was eine Karolingerdarstellung anging: „Bist du wahnsinnig? Da gibts doch nicht mal Klamottenfunde!“
Ganz so falsch ist die Aussage nicht, aber eben auch nicht richtig, denn tatsächlich gibt es den Fund einer Tunika die nah an das 9. Jahrhundert heranreicht.
Es handelt sich dabei um die Tunika des Mannes von Bernuthsfeld. Jene wird nach einer C14 Datierung in die Zeit zwischen 680 und 775 n. Chr. verortet.
Die Halspartie scheint ähnlich der kürzlich in Norwegen gefundenen Lenbreen Tunika aus der späten römischen Kaiserzeit zu sein ( Link ). Auch ihr gesamter Schnitt zeigt noch analogien zu älteren Tuniken, wie etwa der Thorsberg Tunika. Zwar ist die Thorsbergtunika an den Seiten nicht fest vernäht, ihr Grundschnitt ist jedoch nahezu identisch.
Der Schnitt der Bernzhsfelder Tunika entspricht einem(!) der im Stuttgarter Psalter verwendeten Schnitte. Tatsächlich gibt es im Stuttgarter Psalter mehr als einen Schnitt:
Schnitt 1 entspricht dem der Bernuthsfelder Tunika: ein gerader, seitlich geschlitzter Schnitt. Schnitt 2 jedoch ist deutlich weiter ausgestellt, soweit das es dem Träger möglich ist den Rocksaum unter den Gürtel zu stecken der vom langen Brustteil der Tunika verdeckt wird. Dabei besitzt der Rock keine (erkennbare) seitliche Schlitzung. Diese Tragweise taucht in späteren Illuminationen immer mal wieder auf, wobei die Träger in der Regel irgendeiner Tätigkeit nachgehen. Hier lassen sich Analogien zur hochgebundenen Bruche im Hochmittelalter bei Arbeitenden erkennen.
Spätere Bilderhandschriften zeigen sich wie folgt:
- Vivan Bibel (ca.845): seitlich geschlitzt, weiter Schnitt
- Psalter Karls des Kahlen (842-869): keine Schlitzung. weiter Schnitt, zum Teil hochgerafft
- Goldener Psalter von St.Gallen (nach 850): vereinzelte Schlitzung, weiter Saum
- Bibel von St.Paul vor den Mauern (ca.870): keine Schlitzung, weiter Schnitt
- Codex Aureus von St. Emmeram (ca.870): keine Schlitzung erkennbar, weiter Schnitt
- Sakramentar Karls des Kahlen (ca.870): extrem kurze Schlitzung, weiter Saum,
Es scheint sich zu zeigen, dass während der Entstehungszeit des Stuttgarter Psalters (ca. 825) der gerade Schnitt der Tuniken aus der Mode kommt und sich nach und nach ein weiter Schnitt durchsetzt, der durchaus noch geschlitzt sein kann. Diese Schlitzungen treten häufig bei stärker verzierten Tuniken, gelegentlich auch so kurz , oder nur angedeutet, das sich für die Schlitzungen kein Nutzen ergibt. Sie scheinen daher ein Statussymbol zu sein im Sinne von : „Ich kann es mir noch leisten wie mein Opa einen Schlitz ins Kleid zu machen ohne das es einen echten Sinn hätte.“
Daraus stellt sich die Frage wie nun die Weitung des Rockteils erzielt wurde. Auch hier bin ich der Meinung das der Psalter mögliche Antworten bereit hält:
Auf der linken Seite zeigen sich drei Tuniken mit weiten Saum, rechts dagegen, zum Vergleich, eine gerade, seitlich geschlitzte Tunika.
Es fällt auf das sämtlichst ein Faltenwurf im Bereich des Schritts dargestellt wird. Zum einen stellt er den Verlauf der Beine dar und somit das Bild plastisch, aber zum Teil scheinbar auch den Nahtverlauf. Ich gehe daher davon aus das es sich nicht um einen einfachen Keil handelt der den unteren Bereich der Tunika aufweitet, stattdessen vermute ich das der gesamte untere Rockteil aus Trapezen angesetzt war. (Hier die Abbildung eines alanischen Kaftans aus byzantinischer Seide, dessen Rockteil entsprechend konstruiert ist)
Ein komplett angesetztes Rockteil würde auch den Verlauf der zentralen Clavi begünstigen, die im Gürtelbereich verschwindet. Wahrscheinlich an der Naht an der die Rockteile anetzten.
Der Saum der Handgelenke liegt durchweg eng an. Dies kann auf mehreren Wegen bewerkstelligt werden. So kann die Armröhre am unteren Ende so verengt werden werden, das die Hand eben noch so hindurchpasst. So geschehen bei meiner aktuellen Tunika.
Irgendetwas, ein eher unbestimmtes Bauchgefühl, sagt mir aber das dies nicht der goldene Lösungsweg ist. Ich sah mich daher ein wenig um. Fündig wurde ich in der Thorsberg Tunika, die zwar älter ist, aber zumindest noch den selben Grundschnitt aufweist wie die Tunika des Mannes von Bernuthsfeld. Auch hier sind die Ärmel eng gehalten, jedoch die unteren 12cm des Armes keilförmig geschlitzt.Interresanter Weise besitzt auch die Hose von Skjodehamn eine solche Schlitzung um den Füßen das durchschlupfen durch die engen Hosenbeine zu erleichtern. Ich halte dies für eine durchaus praktikable Lösung für die karolingische Tunika.
Auch der Kragen, bzw. der Halsauschnitt gibt mir zu Denken. Auch hier hatte ich mich seiner Zeit für die einfache Schlupflösung mittels eines kreisförmigen Halsausschnittes entschieden. Doch das auch die Tunika von Bernuthsfeld einen seitlichen Auschnitt aufweist, der im Übrigen einen gut verdeckten Eindruck macht gab mir zu denken.
Da andere Bildquellen den Halsauschnitt fast immer durch einen Mantel verdecken, suchte ich erneut den Stuttgarter Psalter ab um Hinweise zu erlangen. Tatsächlich fand ich einige Darstellungen, die Überlegungen zulassen:
Natürlich lässt sich zu den Bildern die Vermutung aufstellen, dass es sich bei den Strichen, die der zentralen Clavi auf den Kragen folgen, um Fehler, Reste der Vorzeichnung oder ähnliches handelt. Und dennoch halte ich es für wichtig sich dies einmal näher anzuschauen und zu hinterfragen.
Zunächst einmal sollte man fragen ob es diesen seitlichen Schlitz im Kragen auch noch später gab. Und tatsächlich gibt es ihn an der Dalmatica Heinrichs II/ Kunigundes (Träger ist leider nicht klar) Hier tauchen im übrigen auch wieder Kreisverzierungen auf!! (Bild)
Auch die Skjoldehamn Tunika weist eine ganz ähnliche Kaschierung des Auschnittes auf. (Ich spreche hier nicht über die oftmals nachgescheiderte „Übertunika“ sondern die etwas unbekanntere „Untertunika“ Abbildung des Schnittes hier, die ganze Tunik (pinterest) und der Auschnitt (pinterest) )
Ebenfalls beachtenswert in diesem Zusammenhang ist die byzantinische Tunika aus den türkischen Mazan Höhlen, die ins 9. Jahrhundert datiert wird. (Abbildungen mit Schnittmuster). Auch sie verblendet den eigentlichen Halsauschnitt.
Tatsächlich scheint also das Verdecken des eigentlichen Halsauschnittes nichts ungewöhnliches zu sein. Daher keimt in mir die Frage auf ob die Tuniken etwa einen Schlüssellochauschnitt besaßen, der dann mittels der Halsverzierung verdeckt wurde. Ganz ähnlich eben den Auschnitten an der Tunika aus den Mazan Höhlen oder der Tunika von Skjoldehamn.
Eine Begründung für diese Vorgehensweise könnte das Schamgefühl sein. Könnte doch ein offener Ausschnitt mitunter zu viel „Dekolletee“, bzw. zu tiefe Einblicke ermöglichen, vergleichbar mit dem herumlaufen in Unterwäsche.
Eine Tunika wie ich sie im vorangegangenen Text beschrieben habe, könnte nun so aussehen wie links dargestellt.
Ergänzend sollten wir noch einen Blick auf das Bildnis des Markgrafen Gero werfen, welches in der Stiftskirche Gernrode hängt. Gero starb 965. Es gilt als sicher das das heutige Bild Geros, welches um 1540 entstand, eine Abzeichnung einer möglichen Grabplatte darstellt bevor diese erneuert wurde. Dafür spricht auch, das das fast gleiche Bildnis auf einer Siegelfälschung aus der Zeit um 1200 auftaucht.
Geros Tunika ist, zuminest im Bereich des Rocksaums noch wesentlich weiter geschnitten als die Abbildungen der Tuniken des 9. Jahrhunderts. Soweit das man sogar davon ausgehen könnte das er gerafft ist und ebenfalls separat angesetzt wurde. Der Kragen scheint nun sehr weit zu sein und es sich tatsächlich um einen Schlupfkragen zu handeln. Übrigens trägt Gero auf dem Bild eine rote Kappe.
Hallo Leute,
Nach reiflicher Überlegung möchte ich meine Gewandung die Karolingerzeit anpassen bzw. erneuern, leider und trotz fleißiges Lesen so mancher Artikel über die Zeit der Karolinger sind noch ein paar Fragen offen.
1. wie bunt war die Kleidung eines Adeligen der Untersten Stufe ? Oft sieht man „Bauern“ mit recht Farbigen Frühmittelalterlichen Gewand, wie Blau und Grün, Gelb, Braun, Grau und Naturfarben….. Blau und Grün für einfache Leute ? Ich würde für meine Gewandung eines klein Adeligen Naturfarben, Leinen und Schurwolle verwenden… Könnte das passen ?
2. Wie lang war die unter und Ober Tunika im gegürteten und gerafften Zustand, bis kurz oberhalb oder kurz unterhalb des Kiens, war eine ggf. Länger?
3. Die Wandenwickel, was für Farben würden für mich als armen Adeligen passen, naturfarben habe ich schon, ich dacht aber ein paar Rote (als einziges Standes Symbol, neben den Waffen könnte es sein) könnten auch passen… Oder ?
4. Der Mantel ist klar, ebenso die Schuhe, Halstuch, Beutel, Gürtel usw.
5. Bewaffnung…. Ein immer Währendes Thema, ich Persönlich bin fast immer nur mit einen etwas längeren Messer das einem Gladius mit Schweizer Dolch Griff gleicht, in wie weit das tragbar ist weiß ich nicht, zusätzlich trage ich ein Kleines Messer. Sollte ich mal ein Schwert mit führen dann währe das ein Gefäß Typ N das vor 850 auftaucht….. Warum ein Typ N ? Ich mag die längere Parierstange und diese ist für mich auch Sicherer wer mal ein paar auf die Finger bekommen hat weiß was ich meine. Auf einen Helm und Schild verzichte ich da ich nicht Aktiv an „Kämpfen“ teilnehmen will. Als Lanze habe ich ein 2,40m hohe Flügellanze mit der auch nicht gekämpft wird 🙂
6. Gibt es noch was auf das ich bei der Tracht achten sollte, habe ich was vergessen ?
Danke für eure Hilfe schon mal im Voraus 🙂
Mit Gruß Olaf
Hallo Markus,
ich habe meine letzte Tunika mit angesetztem Rockteil aus Trapezen genäht, weil ich die Psalter Darstellungen genauso interpretiere wie Du. Die Tunika (das Rockteil) fällt sehr schön weit aus und es gab keinen Verschnitt durch die Trapezform. Weiterhin haben die Trapeze stumpfere Eckwinkel als Dreieckskeile, so kommt es beim Trapezschnitt zu weniger Stofflagen in den Ecken. Meiner Meinung nach sind Trapeze einfacher zu vernähen.
Gruß Ulrich
Vielen Dank für die Rückmeldung an dieser Stelle nochmal Ulrich! Konnte ja den Schnitt am Wochenende bewundern und war zugegebener Maßen erstaunt das der Rock so gut fällt. Womöglich hat hier auch der Lederinfassung beigetragen 😉 Lob und Dank gebührt Dir das Du das Versuchskaninchen gegeben hast !!!