Kritik der Chronologiekritik
Ich lese auch hin und wieder mal die Theorien der Phantomzeitanhänger, nur um gewappnet zu sein für den Fall, das mir an einer dunklen Straßenecke mal jemand mit durchgeladenem und entsichertem Illig auflauert.
Ich hab mal einige der gängigen Sachen durchgelesen und möchte mal etwas dazu loswerden. Ich werde aber nicht auf die entsprechenden Seiten verlinken (Die kriegen keinen Trackback, kann sich jeder selber suchen), wobei es nur um das vermeintlich nicht existente karolingische Frühmittelalter drehen wird. (Und nicht etwa um die Story alles seit Troja wäre erst in den letzten 200 Jahren passiert)
Die einschlägigen Ausführungen strotzen oft vor Polemiken. Anstatt verschiedene Autoren ergänzend zu werten , werden diese generell gegeneinander ausgespielt oder neuere Erkenntnisse nicht gewertet oder erwähnt. So etwa die inzwischen schon fast 10 Jahre alte Erkenntnis das die ursprüngliche Pfalz Ingelheim einen Kirchenbau in Form eines Triconchos besaß. Theorien bauen oftmals nur auf einseitigen Erkenntnissen auf, die etwa öffentlich in Museen zu sehen sind, nicht aber auf die für die Archäologie meist wichtigeren Kleinfunde, die, da nicht spektakulär genug, nicht in den Museen gezeigt werden. Die Korrektheit der Dendrochronologie wird ohnehin in Frage gestellt.
Oftmals drehen sich Begründungen nur im Kreis und gründen sich oftmals nur auf die Annahme die Karolinger hätten nie existiert. Vereinfachtes Beispiel: Die Karolinger existierten nicht -> Da die Karolinger nicht existierten kann Ingelheim nicht karolingisch sein -> Da Ingelheim mehr nach Römer aussieht als nach Goslar muss es römisch sein -> Da Ingelheim römisch ist kann es nicht karolingisch sein -> Die Karolinger haben nicht existiert! Herr Kaiser hätte jetzt gesagt: „Ein Teufelskreis!“
Unter ganz ähnlichen Voraussetzungen kann ich übrigens auch die Staufer in Teilen verschwinden lassen! In der Ausstellung „Die Staufer und Italien“ waren zur Antikenrezeption einige Marmorköpfe aufgestellt. Einige konnten nicht eindeutig zeitlich zugeordnet werden (eben ein Hinweis auf die Antikenrezeption!) weshalb an einigen Köpfen stand: „römisch oder 13. Jahrhundert“ an einem Stand sogar „römisch, 13. Jahrhundert oder Kopie des 19. Jahrhunderts“! Die Staufer haben also nie existiert, weil die Büsten entweder römisch oder Fälschungen sind! Hurra! Ich schreib ein Buch und tu so als ob ich reich würde!
Ich will nicht sagen, das einige der gestellten Fragen, die die Phantomzeittheoretiker aufwerfen, nicht intelligent wären. Oftmals stellen sie interessante Fragen, geben sich aber meist selbst nur die Antworten die sie auch hören wollen!
Ich möchte noch einmal ein konkretes Beispiel anführen und zwar die These Corvey sei in Wirklichkeit römisch, die gerne auch von den Phantomzeitlern aufgegriffen wird. Hier zuerst einmal die reguläre Chronologie der Klosterkirche zu Corvey:
822 – Baubeginn der Klosterkirche
844 – Weihe der Kirche
870 – Chorneubau
873 – Baubeginn Westwerk
877 – Weihe Westwerk
1665 – Abriss der Kirche, Westwerk bleibt erhalten
Nun gehen Kritiker davon aus das das Westwerk ein römischer Bau, eine Viersäulenhalle, sei, die das Zentrum einer römischen Civitas bildete. Die Halle wurde später um- und überbaut und zum Westwerk, erst zu diesem Zeitpunkt erfolgte der Anbau der Kirche.
Die (wichtigsten) Begründungen:
– Das Westwerk besitzt ein umlaufendes Ringfundament und ist dadurch ein eigenständiger Bau
– Das Westwerk hat ein niedrigeres Bodenniveau als die Kirche
– Das Westwerk besitzt Verputzreste aus Ziegelkleinmörtel wie ihn auch die Römer verwendeten und der im Frühmittelalter unbekannt war
– Eine am Westwerk mit Ziegelkleinmörtel vermauerte lateinische Inschrift, in der Schriftart Capitalis Quadrata ausgeführt, soll auf einen römischen Kaiser hinweisen und war ein ursprünglicher Teil der Viersäulenhalle
– Malereien eines Odysseus und anderer antiker Figuren im Westwerk
Meine Gegenargumente:
-Umlaufende Fundamente finden sich des öfteren in der karolingischen Zeit. So etwa bei den Querhäusern in Frankfurt und Trebur. Zum Anderen ist davon auszugehen das man beim Anbau des Westwerks an die bestehende Kirche man so wenig wie möglich Aufwand betreiben wollte. Wenn man dem Westwerk einen guten Halt hätte geben wollen, hätte man für eine große Teile des Langhauses und der Seitenschiffe niedereißen müssen um eine entsprechende Verzahnung herzustellen. Wesentlich einfacher und auch stabiler ist es da einfach ein umlaufendes Fundament zu setzten!
– Ein niedrigeres Westwerk muss nicht heißen das es ein älteres Gebäude ist. Hier ist ein anderer Grund zu suchen als die Bequemlichkeit das Langhaus 50cm tiefer zu legen. Auch Westapsiden oder Westbauten sind oftmals um einige Stufen abgetrennt um die Räume auch optisch zu trennen, da sie eine andere Funktion hatten als das eigentliche Kirchenschiff.
– Ziegelkleinmörtel war durchaus im Frühmittelalter bekannt, wie die Funde am Aachener Dom zeigen. Das Argument zieht also nur wenn man sagt der Aachener Dom sei ebenfalls römisch! Was aber in der karolingischen Zeit nicht mehr existierte war der Puzzolanzement der Römer.Zeigelkleinmörtel ist keine Eigenheit der Römer allein!
– Capitalis Quadrata findet sich ebenfalls noch in karolingischen Handschriften (Beispiel hier), wenn die Karolingische Minuskel nicht verwendet wurde. Etwa bei Weiheschriften. Die Inschrift ist als Teil des Stundegebets übersetzbar. Einen feuervergoldeten Buchstaben der Inschrift fand man bei Grabungen im Chor, wo diese Inschrift wohl ursprünglich angebracht war.
-Darstellungen dieser Art finden sich in diversen karolingischen Handschriften und gelten als elementarer Bestandteil der Antikenrezeption und der karolingischen Renaissance. Sehr ähnlich Darstellungen finden sich auf der Cathedra Petri, dem Thron Karls des Kahlen der zu seiner Kaiserkrönung 875 entstand, zum Papstthron wurde und eine ähnliche Zeitstellung besitzt.
Auf Trebur und Frankfurt angewendet könnten die Theorien zu folgendem Szenario führen:
Da die Frankfurter Pfalz und ihre Gebäude auf römischen Ruinen entstanden können sie nicht römisch sein. Da es keine Karolinger gab, dürften sie frühstens Ottonisch sein.
In Trebur finden sich römische Reste nur in der Kirche vermauert, außerdem besitzt sie mit Ziegelkleinmörter verputzte Bauteile. Da diese Bautechnik im Frühmittelalter nicht mehr existierte muss die Kirche eigentlich ein römischer Bau sein. Daraus folgt Frankfurt wurde nach dem Vorbild Treburs erbaut und daher noch gößer gestaltet um das römische Trebur zu übertrumpfen. Tada!
Die Diskussion rund um die angebliche „Phantomzeit“ ist durchaus auch ein Segen.
Denn es wird durchaus auch an nachvollziehbaren Beispielen aufgezeigt, wie unglaublich stark die pure Kaffeesatzleserei in der Geschichtswissenschaft, und ihren Hilfswissenschaften, anzutreffen ist.
Ich glaube das eigentliche Problem ist, dass die Geschichtswissenschaft oder eigentlich viel mehr der Geschichtsunterricht früher in der Schule, heute unterstützt durch fragwürdige Histotainment-Formate im Fernsehen, den falschen Eindruck erweckt hat, dass wir im Großen und Ganzen genau wissen „wie das früher so gewesen ist“. Tatsächlich basiert das meiste nur auf mehr oder weniger plausiblen Schlussfolgerungen. Wenn dann mal eine etablierte Schlussfolgerung fragwürdig erscheint, werden oft sämtliche etablierten Schlussfolgerungen in Frage gestellt.
Die Geschichtswissenschaft sollte einfach ehrlicher sein und deutlicher machen, dass es keine absoluten Wahrheiten gibt, sondern man nur das, was unmöglich geschehen sein kann, ausschließen kann. Die Möglichkeiten, die innerhalb dieser Grenze existieren, sind immer noch unendlich und weil die meisten Menschen mit Mathematik auf Kriegsfuß stehen, verwechseln sie unendliche Möglichkeiten mit „alles ist möglich“.
Vor allem müsste die Geschichtswissenschaft zugeben, dass die Interpretation von Geschichte auch vom Zeitgeist abhängt und Interpretationen, die früher aus Unwissen oder aus politischen Gründen kolportiert wurden, teilweise erhalten bleiben. Die Darstellung Neros als größenwahnsinnigen Brutalo geht immer noch auf die Propaganda zurück, die seine Nachfolger verbreitet haben, um einen rechtswidrigen Dynastiewechsel zu rechtfertigen, der sogenannte Kinderkreuzzug wird immer wieder als reales Ereignis dargestellt, obwohl er eine Fiktion ist bzw. eine grob falsche Interpretation der tatsächlichen Ereignisse. Unxdneulich habe ich auf N-TV eine Dokumentation über die Landnahme Kanaans gesehen, wo man anhand des Alten Testaments tatsächlich versucht hat, die Strategie, die Josua während einer Schlacht anwandte, mit Computeranimationen dargestellt.
Wenn man dann mal diesbezüglich selbst recherchiert oder so schon ein wenig Ahnung hat und bemerkt, was die da für einen Blödsinn erzählen, dass die Fiktionen als Wahrheit darstellen, muss man sich nicht wundern, wenn die Ergebnisse der Geschichtswissenschaft auch an sich in Frage gestellt werden. Es ist nicht so, dass die Illigs dieser Welt nur Außenseiter sind, manchmal sitzen sie, Gruß an Herrn Knopp, auch im Zentrum derer, die unser Geschichtsbild prägen.
Die Geschichtswissenschaft müsste also mehr in den Vordergrund stellen, dass es einen großen Interpretationsspielraum gibt und diesen Interpretationsspielraum auch konkret darstellen, statt so zu tun, dass etwas genauso und nur so abgelaufen sein muss. Stellt sich das nämlich als falsch heraus oder hält man an anekdotenhaften Fiktionen als reale Ereignisse fest, wie das in Fernsehdokumentationen immer wieder geschieht, muss man sich nicht wundern, dass am Ende so ein Schwachsinn wie die Phantomzeit rauskommt.