Darmstadt baut mir eine Zeitmaschine in die 70er
Die Siebziger waren für mich immer grau. So grau und regnerisch wie der Himmel im Vorspann der Rappelkiste. Das einzig Bunte war das Entchen auf meiner verhassten Latzhose. Und wenn sich die Siebziger nicht in einem sandigen, bauruinenartigen Hinterhof abspielten, so fanden sie vor Sichtbeton und Plattenbauten statt. Überhaupt, Beton! Beton soweit das Auge reicht. (Seltsam eigentlich diese Erinnerung, wo ich doch weder in Halle-Neustadt, noch im „Dicken Busch“ in Rüsselsheim aufgewachsen bin, sondern auf dem Land und mitten im Grünen.)
Am Montag, es war regnerisch und stürmisch, der Himmel grau verhangen, musste ich zu einem Kundenbesuch in die Darmstädter Innenstadt. Über die Hügelstraße verließ ich die Fußgängerzone wieder und sah das der Bauzaun, der zwischen Ludwigskirche und Staatstheater den Blick auf die Georg-Büchner-Anlage versperrte, entfernt worden war. Die Bauarbeiten an der Anlage waren beendet und hatten aus der Georg-Büchner-Anlage den Georg-Büchner-Platz gemacht.
Früher war die Anlage ein typisches Produkt der 70er. Wasserbecken und rechtwinkelige Blumenbeet mit überwucherten Hecken in Waschbetonoptik. Grau. Verschmutzt. Wasserbecken und Hecken wurden zum Mülleimer. Und nun?
Als ich das Ergebnis sah, dachte ich: So müssen die 70er ausgesehen haben als sie noch neu waren! Der graue Waschbeton ist weißem Sichtbeton gewichen, aber in ein oder zwei Jahren wird der auch schon grau werden, so wie es mit der neuen Fassade des Staatstheater jetzt schon geschieht. Die rechteckigen Blumenbeete, sind länglichen Grasstreifen gewichen, die auf Grund der Grashöhe nicht mehr als Mülleimer dienen sollten, aber bestimmt wegen der Kanten den ein oder anderen Stolperer auslösen dürften. Um den Stürzenden und den Müll wieder aufzufangen gibts wieder ein Wasserbecken. Als Blickfang gibt es weiße Betonpilze. Ich meine die aus den 70ern noch zu kennen.
Beton.org macht zusammen mit Dyckerhoff (ein Reizwort für Treburer) Eigenwerbung mit ihrem in weiß erstrahlendem Betonensemble. Nachts sieht das ganze ja ganz witzig aus, aber leider auch nur bei Festbeleuchtung. Bei starker Sommersonne aber läuft man Gefahr schneeblind zu werden, wenn der Himmel grau und regnerisch ist, wird die Anlage schon jetzt zum Spiegel des Himmels und passt sich hervorragend an die Wolkendecke an. Ich bin auf den Winter gespannt! Wahrscheinlich wird dann auch der heute noch eigenartig Grün leuchtende Rasen sich mit einem schneematschgrau an den Himmel an und „Dyckerhoff Weiss, der Ästhet unter den Zementen“ (Zitat Beton.org) wird seinen bestes geben hier mit zuhalten.
Oh, Darmstadt! Du Dorf mit Straßenbahn (Zitat: Mein Chef). Was wäre ich nur ohne deine klasse Einfälle! Du hast es geschafft mich für einige Minuten in die 70er zu versetzten, nur die Latzhose mit dem Entchen hat gefehlt. Danke! Und jetzt könnt ihr den Mist wieder wegmachen.
In meiner nihilistischen Phase habe ich schon über das Staatstheater geschrieben (man beachte vor allem diese pseudofreudianische Wortschöpfung postorgastisch 😉 ):
„Links daneben war das neue Theater, ein hässlicher, postorgastischer Schandfleck, der so farb- und fantasielos war, dass man meinte, der Grafiker hätte bei der Computersimulation vergessen, die Texturen darüber zu legen… oder sie bewusst weggelassen, um Speicher zu sparen. Schaute man aber genauer hin, stellte man fest: das war gar keine Grafik! Irgendein Vollidiot hatte das wirklich gebaut. Wahrscheinlich konnte der Architekt schon als Kind keine schönen Dächer zeichnen und hat sie deshalb einfach weggelassen. Ziegel sind knifflig.
Und das war bei weitem nicht die schlimmste Verunstaltung der Stadt, in der nach dem Krieg phantasielose und offenbar psychisch gestörte Architekten Amok liefen und Darmstadts Stadtzentrum seelen- und identitätslos zurückliesen, wie von Vampiren ausgesaugt. Es waren Gebäude, die an Science-Fiction-Distopien erinnerten, an die düsteren Visionen Orwells oder Huxleys.“
Ich glaube, die neue Fassade hat sogar irgendeinen Architekturpreis gewonnen. Da fragt man sich schon… bin ich derjenige, der den künstlerischen Wert daran nicht erkennt… oder hat es einfach keinen… ich kann mich aber erinnern, als Teenager nachts öfters auf dem Georg-Büchner-Platz gewesen zu sein, noch bevor sie den Fluter aufgestellt hatten und nur die schummrigen orangefarbenen Lampen den Platz etwas erhellten. Das hatte etwas interessant surreales.