Eine „Geruchsreise“ ins Mittelalter
Wenn man heute über einen „Mittelaltermarkt“ schlendert, steigen einem Bratwurstgerüche, Gewürze (ab und an auch mal verbrannte Kartoffeln, aber das ist eine andere Geschichte) und hier und da der Geruch eines Holzfeuers in die Nase. Leute bleiben stehen und schnuppern und finden das alles ja so romantisch und nippen an ihrem Met für 3 Goldrandtaler plus 4 Goldrandtaler Pfand für den Tonbecher…
Die Realität im Mittelalter aber war eine andere. Ich möchte euch auf eine kleine fiktive „Geruchsreise“ in (Früh-)Mittelalter mitnehmen.
Wir befinden uns nun etwa am Ende des 8ten, Anfang des 9ten Jahrhunderts irgendwo im fränkischen Kerngebiet und bewegen uns auf einen Vicus zu, der möglicherweise zu einer Pfalz oder einem Krongut gehört. Es ist Herbst, die Ernte ist gößtenteils eingefahren, es ist Zeit für die Märkte, denn Martini rückt näher und damit die Zeit für die Abgaben. Zum Start stehen wir auf einem matschigen Waldweg in einem Mischwald aus Stieleichen, Hainbuchen und Erlen, durchzogen von morastigen Senken. Noch umweht uns der Geruch von feuchtem Wald, gefallenem Laub – mit einem Wort: Herbst.
Der Geruch ändert sich jedoch schlagartig, als wir uns dem Waldrand nähern. Beißender Rauch treibt uns Tränen in die Augen. Am Waldrand sehen wir die Urheber: Köhler verhütten Holz zu Kohle, die für Schmiedefeuer benötig werden. Aus den Meilern quillt der beißende Rauch.
Vor uns liegt die Siedlung. Sie ist in eine dichte Dunstglocke gehüllt. Es ist nicht etwa Nebel, sondern Rauch der Feuer aus den Hütten und den Werkstätten, der sich bei der noch vorherrschenden warmen Inversionswetterlage über der Siedlung und in der weiten Lichtung fängt.
Der Rauchgeruch ist von nun an unser ständiger Begleiter auf dem weiteren Weg.
An einer Brücke die einen der unzähligen Bachläufe der Aulandschaft quert, steht ein Mann und pinkelt an die Böschung, dann nimmt er seinen Eimer und holt Wasser.
Ein brennender Uringeruch weht uns um die Nase. Er stammt von den Gerbern und Färbern am Rande der Siedlung, die direkt am Bachlauf liegen, direkt ben einer Brauerei. In den Uringeruch mischt sich der Geruch nach nassem Hund. Es sind aber keine Hunde die da baden gehen, es sind Frauen die Wolle waschen die später versponnen oder gefärbt wird.
Wir sind nun in der Siedlung, der Geruch von Fäkalien ist allgegenwärtig. Er stammt von den Bewohnern der Siedlung und deren Vieh. Schweine traben über den den Weg, der mit Reisigbündeln bedeckt ist , damit man nicht direkt im Dreck der Tiere und Menschen steht.
Um die Häuser sind kleine Gräben gezogen in denen sich brackiges Wasser und Fakalien sammeln, zum Teil haben die Häuser auch Fäkaliengruben. Ein Mann mit einer Forke kommt uns entgegen. Er riecht extrem buttersauer nach Schweiß. Daran sollten wir uns gewöhnen, denn eigentlich jeder riecht hier so, naja der oder die andere mehr oder weniger mit einer Note Tier. Die Menschen wohnen mit ihrem Vie unter einem Dach.
Wir kommen an das Zentrum der Siedlung. Die ohnehin schon locker gruppierten Gehöfte umschließen einen Platz an dem eine einfache steinerne Kirche steht, die schon ein wenig heruntergekommen aussieht. davor herrscht reges Marktgeschehen. Hier gibts „frischen“ und haltbar gemachten Fisch und Flußkrebse, die mit den Fäkalien um die Wette stinken. Neben an schlachtet einer ein Schwein, die Innereinen werden in einer Molle gesammelt – alles wird verarbeitet. Daneben steht ein Mann und uriniert neben seine Kiepe , fällt nicht weiter auf.
Es wird Leinöl angeboten, ob es ranzig ist kann man beim riechen nur schwer feststellen, da die anderen Gerüche für uns alles überdecken, ist aber gut möglich. Der Wein den es zu kaufen gibt ist sauer wie Essig und mann kann ihn eigentlich nur verdünnt genießen.
Wir gehen zur Kirche, davor sitzt ein Mann, dem ein Bein fehlt, das andere scheint gebrochen gewesen zu sein und wuchs wohl falsch zusammen. Sein Beinstumpf ist eitrig und offen. Es riecht nach Verwesung.
In der Kirche ist alles anders. Weihrauch und Kräutergeruch überdeckt die Gerüche der Menschen die sich zum Gebet versammelt haben. So muss es im Paradies sein…
Um einen Hauch von diesem Leben zu bekommen kann man sich natürlich für ein, zwei Wochen mit einer Gruppe Menschen in einem Freilichtmuseum einschließen, jedoch wird man nie wirklich nachempfinden können wie es in dieser Zeit war. Vielleicht ist dieser Text etwas überzogen, ich möchte aber verdeutlichen wie stark sich das damalige Leben und die damit verbundene Selbstverständlichkeit von der unseren Heute unterscheidet und wie oft doch Fantasie und Wirklichkeit auseinander driften (Hollywood-Mittelalter).
Hallo Markus,
schön schauriger Ausflug in die Geruchswelt des Mittelalters. Man darf natürlich nie unterschätzen, daß man sich an so einiges gewöhnen kann.
Zum Thema „Was man sich alles gar nicht mehr vorstellen kann“ könnte ich noch ein paar Idenn beisteuern:
– Wie klein die durchschnittliche Ansiedlungen und damit das Umfeld an bekannten Menschen war.
– Dazu kommt (worüber wir evtl. schon in Bad Salzhausen gesprochen haben), wie weit man von seinem Geburtsort im Laufe seines Lebens weg kam und was ein Besuch in der nächsten Stadt bedeutete. Die Entfernung und die Strecken, die man zu Fuß zurückgelegt hat, sind mal eine Überlegung wert.
– Auch die Abhängigkeit von günstigem Wetter und einer guten Ernte ist heute in unserer Überflußgesellschaft nicht mehr einfach nachzuvollziehen.
Geschichtsinteressierte, Reenacter und Archäologen sollten solche Gedankengänge aber nicht „unter den Tisch fallen lassen“, denn auch so kann man sich dem Verständnis damaliger Lebensumstände ein kleines Stück annähern.
PS: Und meine Meinung zu in Fett gesottenen Erdapfelstreifen und glitzernden Plastikzauberstäben auf Mittelaltermärkten kennst Du ja.
zu viel text, zu wenig bilder. kein bock
Dann versuch mal den Bock mit den Augen zu riechen! 😉
Hallo Markus,
lecker lecker. Habe ich gleich als zusätzliche Duftprobe auf meiner Webseite verlinkt. Danke fürs Reinschnuppernlassen!
Viele Grüße
Birgit
Cooler Beitrag. Bin bei der Recherche für meinen Roman darauf gestoßen. Eigentlich bräuchte ich die Situation in einer spätmittelalterlichen Stadt, aber da die Kanalisation nach der Römerzeit erst wieder im 19. Jhdt. richtig aufkam, wird’s wohl größtenteils ähnlich gerochen haben. Stadt = Pipikakasee. Das werden auch die Ehgräben und Dolen in jener Zeit nicht groß beeinflusst haben.